Interview mit Michael Sahli, Präsident des SV Stiftungsrats, über neue Ernährungstrends, Armut und die grösste Stärke des Caritas-Markts.
Herr Sahli, die SV Stiftung hat ihren Ursprung 1914, als Lebensmittel knapp waren und eine gesunde Ernährung wenigen vorbehalten war. Wie gesund ernährt sich die Schweiz heute?
Eine schwierige Frage gleich zu Beginn! (lacht) Die Ernährung ist vielseitiger geworden. Lebensmittel wie Linsen und andere Hülsenfrüchte kommen wieder auf den Tisch, ebenso neuere Anbauprodukte wie Süsskartoffeln, und immer mehr Menschen ernähren sich vegetarisch oder vegan. Laut der nationalen Studie «menuCH» ist der Konsum von Süssem und Fleisch nach wie vor höher als von der Wissenschaft empfohlen.
Hat sich auch der Fokus der Anträge verändert, die Ihre Stiftung erhält?
Wir erhalten vermehrt Unterstützungsanträge zu Food Waste beziehungsweise Food Save. Auch die Caritas-Märkte engagieren sich ja in diesem Bereich. Das zeigt: Ernährung wird heutzutage breiter gefasst – man schaut nicht nur an, was auf den Teller kommt, sondern interessiert sich auch dafür, was vor- und nachher geschieht.
Ein Zeichen, dass das Thema Nachhaltigkeit an Bedeutung gewinnt?
Wenn mit Nachhaltigkeit auch gemeint ist, dass Nahrungsmittel der Ernährung der Menschen und nicht dem Füttern des Kehrichteimers dienen, absolut! Ein gutes Beispiel sind die Food-Save-Bankette, die wir unterstützen. Was 2016 mit einem Anlass in Bern begann, ist mittlerweile auf 18 Bankette in der Deutsch- und Westschweiz angewachsen. Das ist nicht selbstverständlich. Für jeden Event braucht es lokale Komitees, die Idee und Trägerschaft muss also aus der Bevölkerung kommen. Das ist eine Bestätigung dafür, dass Nachhaltigkeit viele
beschäftigt.
Wegen der Inflation werden Lebensmittel teurer. Hat sich das bereits auf die Ernährungsgewohnheiten ausgewirkt?
Dazu führen wir keine Statistiken. Wir sehen, dass zum Beispiel Essensgutscheine beim Projekt Bon Lieu sehr stark nachgefragt sind. Dies zeigt, dass die Teuerung Menschen mit geringen finanziellen Mitteln sehr hart trifft. Soweit ich weiss, greift die Kundschaft im Caritas-Markt bei Preissteigerung oft zu energiedichten Lebensmitteln. Aufgrund ihres Zuckers- und Fettgehalts sind diese eher ungünstig für eine ausgewogene Ernährung. Die Teuerung wirkt sich also direkt auf das Konsumverhalten vieler Menschen aus.
Wie geht die SV Stiftung damit um?
Wir nehmen diese Entwicklung ernst. Es sollte nicht sein, dass man sich einen Einkauf nicht mehr leisten kann. Eine ausgewogene Ernährung muss auch mit knappem Budget möglich sein.
Sie sprechen die Vision der SV Stiftung an: «Eine gesunde Ernährung für alle». Wie nah oder weit entfernt sind wir davon?
Die aktuelle Entwicklung zeigt, dass unsere Vision relevanter ist denn je. Wir könnten viel mehr Projekte unterstützen, als es unsere finanziellen Mittel erlauben. Dies ist eine Bestätigung, dass es uns weiterhin braucht. Unser Stiftungsziel wird wohl leider nicht so schnell erreicht sein.
Wie kann es gelingen, Menschen mit knappem Budget eine gesunde, aber dennoch kostengünstige Ernährung zu ermöglichen?
Dafür braucht es unterschiedliche Projekte und verlässliche Partner, die ihre Vorhaben teils auch grossflächig umsetzen. Dies ist eine Stärke der Caritas-Märkte. Die Läden sind nicht nur auf eine Region beschränkt, sondern überall dort etabliert, wo es soziale Brennpunkte gibt und der Bedarf gross ist. Deshalb unterstützen wir die Märkte im Rahmen unserer Projektpartnerschaft bereits seit bald zehn Jahren mit einer Verbilligung des Gemüse- und Früchtesortiments.
Welche Ernährungstrends sehen Sie in der Zukunft?
Ich habe leider keine Kristallkugel (schmunzelt). Es gibt globale Faktoren, die unsere Ernährung beeinflussen, etwa das Weltgeschehen. Der Krieg in der Ukraine zeigt, dass plötzlich Getreide knapp und teuer werden kann. Auch der Klimawandel hat direkten Einfluss. Es wird massive Veränderungen geben, was wir anpflanzen können. Gleichzeitig sind wir abhängig von erschreckend wenigen Saatgutsorten. Das führt potenziell zu Anfälligkeiten durch Krankheiten oder extreme Wetterphänomene.
Und was stimmt Sie positiv?
Die Kreativität und die Anpassungsfähigkeit der Menschen sind bezüglich Ernährung zentral. Für viele ist das Tierwohl und/oder das Klima wichtig, sodass sie sich vermehrt pflanzenbasiert ernähren. In gewissen Wirtschaftsbranchen werden Themen wie ausgewogene Ernährung oder Nachhaltigkeit aufgenommen. Die SV Group verfolgt bereits seit längerem eine Nachhaltigkeitsstrategie. Unternehmen mit solchen Strategien erzielen eine bedeutende Wirkung. Zudem bringt die Wissenschaft neue Erkenntnisse, die sich positiv auf unsere Ernährung auswirken werden. Dazu zählt, dass der breiten Bevölkerung mehr Wissen zur Verfügung stehen wird. Schon heute ist auf jedem Produkt festgehalten, welche Inhaltsstoffe drin sind, ob es glutenfrei und/oder vegan ist. Das ist ein Gewinn für die ganze Gesellschaft.
Quelle: Dieses Interview wurde für den Jahresbericht 2023 der Genossenschaft Caritas-Markt Schweiz erstellt.